In dem Schuljahr 1946/47 hatte ich in beiden Halbjahreszeugnissen nur Einser und Zweier, sodass der Lehrer […] meiner Mutter zu einem Wechsel auf eine höhere Schule in Fulda riet. Das war allerdings eigentlich eine fast aussichtslose Sache: Der Postbusverkehr [von Hainzell] beschränkte sich auf eine Hin- und Rückfahrt vormittags und nachmittags, nicht passend, als Alternative gab es einen Firmenlastwagen einer Baufirma, der früh um 6.00 Uhr nach Fulda und abends um 17.30 zurückfuhr, außer von den Firmenarbeitern nur von einem weiteren Schüler genutzt wurde. Überdies kamen zu den Fahrtkosten noch das damalige monatliche Schulgeld, es gab selten Hefte und Schreibmaterial zu kaufen, von einer Tagesverpflegung einmal ganz abgesehen! […]
Ich kann es meiner alleinerziehenden Mutter im Leben gar nicht genug danken, dass sie allen Bedenken zu Trotz mich sofort anmeldete, es wird schon irgendwie gehen […], getreu ihrem Motto: Ein Mann muss eine gute Schulbildung bekommen, um später einen guten Berufsstart zu haben, um eine Familie ernähren zu können!
Ich kam nach einem Eignungstest sofort in die Quinta des Realgymnasiums. Die Schule war selbst noch im Aufbau, es fehlte an Lehrmitteln und Räumen, was gut ausgeglichen wurde durch erstklassige Pädagogen und auch einer gewissen Aufbruchsstimmung. Ich weiß nicht, ob das allgemein so war, aber meine aus allen sozialen Schichten zusammengewürfelte Klasse bildete bald eine verschworene Einheit, geführt von einer verständnisvollen, ledigen, älteren Studienrätin, die wir selten in Zorn geraten sahen, allerdings gaben wir ihr dazu auch kaum Anlass! Ein Wort von ihr im Englischunterricht ist mir stolz in Erinnerung geblieben: „He is the last, but not the least“ gebrauchte sie in Bezug auf mich als Erklärung des Ausdrucks. Wir kamen mit unseren Lehrern allgemein gut aus und hatten als Klasse daher einen guten Ruf, was nicht ausschloss, dass es manchmal, wie damals auch am Gymnasium üblich, Ohrfeigen setzte. […]
Daheim stand der praktische Überlebenskampf im Vordergrund, obwohl alles nach der Währungsreform 1948 spürbar besser wurde. Meine Mutter fand keine Stelle, wir lebten weiter von staatlicher Flüchtlingshilfe und den kümmerlichen Nebeneinkünften durch Näharbeiten meiner Mutter. Die Hungerjahre waren vorbei, Ährensammeln auf abgeernteten Feldern, um aus den gewonnenen Körnern in der Mühle Mehl zu bekommen für Broteintausch oder Weizenkörnern für eigenen Kuchen, wurde immer mehr zum Zusatzsport als Notwendigkeit. Genauso das Pflücken von Huflattich und Brennnesseln, um Spinat daraus zu machen. […]
Wir bekamen an der Schwarza, also nah zum Wasserholen, ein kleines Stück Land zugewiesen, wo alle Flüchtlinge ihre Gemüsebeete anlegten zur Selbstversorgung. Frikadellen bestanden damals zu höchstens einem Drittel aus Fleisch, ansonsten aus Brötchen, welche mit Kartoffelsalat, der mit dem Rahm, der sich auf einem Topf Kuhmilch gebildet hatte, zubereitet wurden, und sie bildeten eine köstliche Tagesversorgung, wenn wir loszogen zum Heidelbeeren-pflücken, um wieder einen Jahresvorrat Marmelade herzustellen. Meine Tagesration am Ofen, wegen der Restnässe geröstetes Maisbrot zusammen mit einem kleinen Arzneigläschen voll braunen Kubazucker, wenn ich die ersten beiden Nachkriegsjahre nach Fulda in die Schule fuhr, war abgelöst worden durch Schulspeisung und regelmäßiger Postbusbeförderung, 7 Uhr Hinfahrt und 14 Uhr wieder heim. […]
Zur Person:
Alois Pleyer wurde 1934 in Prag geboren und wuchs in Landskron im Sudetenland auf. Im Februar 1946 kam er mit einem Vertriebenentransport nach Fulda und fand seine neue Heimat in der Gemeinde Hainzell im Landkreis Fulda, wo er bis 1952 wohnte. Die Aussiedlung und der Neuanfang in Hessen sind einschneidende Erlebnisse. Als Jugendlicher besuchte er ab 1947 das Realgymnasium in Fulda. Während der Schulzeit entdeckte er seine Freude am Handball und war 20 Jahre lang als Schiedsrichter tätig. Ein Anlaufpunkt für den Jugendlichen stellte das Amerikahaus in Fulda dar, wo er sich regelmäßig Bücher auslieh. 1955 schloss Alois Pleyer seine Ausbildung bei der Post als Postassistentenanwärter ab und arbeitete im mittleren Dienst. Er heiratete 1954 und hat drei Kinder.
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