Zwangsbewirtschaftung und Mangelernährung
Bereits 1939 wurde die Zwangsbewirtschaftung der Lebensmittel eingeführt. Auf den Lebensmittelmarken war die Menge an Brot, Fleisch, Fett, Zucker oder Seife für den Kauf in den Läden sowie die Adresse der Begünstigten angegeben.
Während des Zweiten Weltkrieges konnte die Bevölkerung noch mit einer durchschnittlichen Tagesration eines Erwachsenen von rund 2.000 Kalorien rechnen. Mit der Zerstörung der Infrastruktur am Kriegsende verschlechterte sich jedoch die Versorgung erheblich. Vor allem der außergewöhnlich strenge Winter 1946/47 sowie die Missernten im trockenen Sommer 1947 verschärften die Ernährungslage. Die Zuteilung von Lebensmitteln war streng geregelt. In der Stadt Fulda war das kriegsbedingte Ernährungs- und Wirtschaftsamt für die Organisation und Verteilung zuständig. Das Amt war anfangs in der Oberrealschule, ab Sommer 1947 in einer Baracke auf dem Gelände des ehemaligen Offizierskasinos und daraufhin in den Räumen der ehemaligen Fabrik Wahler in der Rabanusstraße untergebracht.
Das Ernährungsamt erfasste die Bevölkerung nach dem Alter sowie deren Lebensumständen und teilte sie in unterschiedliche Kategorien der Versorgung mit der entsprechenden Menge an Lebensmitteln ein. Je nach Zuteilungsperiode waren die Lebensmittel äußerst knapp bemessen. In der Zuteilungsperiode vom 20. August bis 16. September 1945 erhielt eine erwachsene Person über 18 Jahre etwa nur 25 Gramm Fleisch. Es gab unterschiedliche Karten für Erwachsene, Jugendliche, Kinder, Kleinkinder, Kleinkinder und Säuglinge. Zudem wurde bei den monatlich festgelegten Wochenrationen zwischen Normalverbrauchern, Voll- und Teilselbstversorgern unterschieden, um den individuellen Kalorienbedarf zu berechnen.
Ab 1947 erhielten bestimmte Personengruppen mehr Lebensmittel, etwa Schwerarbeiter oder Schwangere und stillende Mütter. Im Zeitraum vom 23. April bis 27. Mai 1945 bekamen beispielsweise erwachsene Normalverbraucher in Fulda auf Lebensmittelkarten 1.500 g Brot und 250 g Fleisch pro Woche, 200 g Nährmittel (Reis oder Erbsen und Mehl), 100 g Marmelade, 100 g Kaffee-Ersatz und 200 g Butterschmalz (vgl. Fuldaer Volkszeitung, 26.4. 1945).
Zeitungs- und Stimmungsberichte
Die Ernährungs- und Versorgungskrise wurde in zahlreichen Berichten der Fuldaer Volkszeitung thematisiert. So lauteten in den Jahren 1946 und 1947 beispielsweise die Schlagzeilen: „30.000 Zentner Brotgetreide fehlen“ oder „Schatten des Hungers auch über dem Fuldaer Land“ (vgl. Fuldaer Volkszeitung, 24.7.1946 und 13.5.1947).
Neben den Zeitungsartikeln spiegeln auch die eingangs zitierten Stimmungsberichte des Fuldaer Polizeichefs Gerd Rupperti die angespannte Versorgungslage wider. So schrieb dieser in der Woche vom 8. bis 14. März 1946, dass „die […] pessimistische, ja reaktionäre Stimmung der Bevölkerung anhält. Mögen verschiedene Faktoren ihren Teil zu dieser Stimmung beitragen, keiner aber ist bei der breiten Masse so ausschlaggebend wie der Faktor Hunger.“
Durch die weiteren Kürzungen der Lebensmittelrationen im März 1946 konnte nur die Hälfte der eigentlichen Brotration ausgegeben werden. Rupperti hielt dazu fest:
„Das bedeutet besonders für Familien mit erwachsenen Kindern Hunger und nochmals Hunger. Die Stimmung hat durch Hunger und Entbehrungen einen Tiefstand erreicht, wie nie zuvor, da ändern auch alle in den Zeitungen vermerkten Hilfsbemühungen nichts.“
Rupperti, Stimmungsbericht, 29.3.-24.4.1946
Der Fuldaer Landrat Georg Stieler appellierte in seiner sogenannten „Hungerrede“, welche im Juni 1946 in der Fuldaer Volkszeitung veröffentlicht wurde, an die „Bauern und Bäuerinnen des Fuldaer Landes“ ihrer Ablieferungspflicht zur Versorgung der städtischen Bevölkerung nachzukommen und mahnte: „Lasst unsere Mitmenschen nicht verhungern!“ (vgl. Fuldaer Volkszeitung, 1.6.1946).
Im August 1946 wies Rupperti auf die gesundheitlichen Gefahren der Mangelernährung für die Bevölkerung hin:
„Wenn es nicht gelingt, die Rationssätze für Lebensmittel heraufzusetzen, steht zu befürchten, dass der Gesundheitszustand ein immer schlechterer wird und in Verbindung mit der Zusammenpferchung der Bevölkerung auf engstem Raum durch die Zuweisung der Flüchtlinge ist die Gefahr der Ausbreitung von Seuchen und Epidemien bedeutend angewachsen.“
Rupperti, Stimmungsbericht, 16.8.1946
Im Herbst 1946 schrieb der Polizeichef, dass die Fuldaerinnen und Fuldaer die angekündigten Lebensmittellieferungen aufgrund des akuten Mangels nicht ernst nahmen:
„Die Bevölkerung empfindet die ständige Hinhaltung wegen der angekündigten Lebensmittelerhöhungen als Hohn und als bewusste Verdummung; allgemein hat man das Gefühl, dass man nur hingehalten wird und dass man gar nicht gewillt ist, den Deutschen ein Minimum als Existenzgrundlage zu geben. […] Allgemein wird darauf hingewiesen, dass die bestehenden Fettrationen unmöglich sind und dass bei Beibehaltung derselben für den Winter das schlimmste zu befürchten ist.“
Rupperti, Stimmungsbericht, 11.10.1946
Hungerwinter 1946/1947
Ihren Höhepunkt erreichte die Ernährungskrise im strengen Winter 1946/47, der zum „Hungerwinter“ wurde. Von Mitte Dezember bis Ende März 1947 gab es eine anhaltende Kälteperiode. Über zwei Monate lagen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. In der Folge brach das Transportsystem völlig zusammen. Neben dem Mangel an Lebensmitteln wurden die Brennstoffe knapp, da Holz und Kohle bei der extremen Kälte nicht ausreichten.
Auch die politischen Auswirkungen des Hungers wurden thematisiert: Am 23. November 1946 titelte die Fuldaer Volkszeitung „Ohne Nahrung keine Demokratie“ und berichtete von der Lebensmittelzufuhr in der britischen und amerikanischen Besatzungszone. Der Tagessatz für einen Normalverbraucher betrug zu diesem Zeitpunkt nur noch 1.550 Kalorien. Dies konnte jedoch aufgrund von Transportschwierigkeiten der angeforderten Lebensmittel aus den USA kaum gewährleistet werden (vgl. Fuldaer Volkszeitung, 23.11.1946).
Anfang Dezember 1946 berichtete die Fuldaer Volkszeitung unter dem Titel „Der Hunger geht um“ über ernährungsmedizinische Erkenntnisse und Folgen der Mangelernährung, wie etwa Hungerödeme. (vgl. Fuldaer Volkszeitung, 5.12.1946).
In einem weiteren Stimmungsbericht schilderte Rupperti, dass Hausfrauen mehrere Stunden für Butter anstehen mussten, ganz zum Nachteil der arbeitenden Bevölkerung (vgl. Gerd Rupperti, Politischer Stimmungsbericht, 14.11.1946). Insbesondere die erneute Kürzung der Fettration, welche für den Monat Dezember nur 200 g betrug, wurde als „völlig unzureichend bezeichnet“ und löste bei der schon unterernährten Bevölkerung großes Unverständnis aus, insbesondere gegenüber den verantwortlichen amerikanischen und deutschen Behörden (vgl. Rupperti, Stimmungsbericht, 13.12.1946).
Hamsterfahrten und Schwarzmarkt
In der Stadt Fulda wurden im April 1947 38.468 Menschen, bis März 1948 sogar 40.214 Personen monatlich mit Lebensmittelmarken versorgt (vgl. Verwaltungsbericht 1947, S. 30). Darüber hinaus unternahmen viele Menschen Hamsterfahrten, um ausreichend Nahrungsmittel zum Überleben zu besorgen. Die Fuldaerin Liselotte Röder berichtete, dass es zwangsläufig zum Hamstern kam, um überhaupt durchzukommen. Häufig wurden auch Kohlen an den Bahngleisen gegen die Kälte geklaut, da es keine Brennmaterialien gab und die Menschen in ihren Wohnungen froren. Die Versorgungskrise nach 1945 sorgte auch in der Stadt Fulda für eine zunehmende Kriminalität und zwang die Bevölkerung zum Kauf von Lebensmitteln und Waren mit hohen Preisen auf dem Schwarzmarkt.
Der Fuldaer Polizeichef Rupperti stellte hierzu fest:
„Die Lebensmittelnot führt dazu, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zur Befriedigung ihres Hungers gezwungen ist, Lebensmittel im Schwarzhandel zu erwerben, da die niedrigen Sätze der Lebensmittelkarten nicht ausreichen, um das Minimum eines Lebensstandards zu garantieren. Durch diese mangelnde Zuteilung von Lebensmitteln bedingt zeigt sich auch eine wachsende Kriminalität in Bezug auf den Diebstahl von Lebensmittelkarten, deren Zahl in erschreckendem Masse anwächst.“
Rupperti, Stimmungsbericht, 13.12.1946
Im Mai 1947 sah Landrat Stieler für die Region Fulda die schwerste Stunde nach dem Dreißigjährigen Krieg gekommen (vgl. Fuldaer Volkszeitung, 21.5.1947). Erst Mitte des Jahres 1948 verbesserte sich die Versorgungslage mit der Währungsreform erheblich. Die Lebensmittelmarken in Hessen verschwanden jedoch vollständig erst 1950 aus dem Alltagsleben der Bevölkerung.
Kurzbiografien
Gerd Rupperti – Polizeichef und Gesellschaftsbeobachter
Im August 1945 wurde Gerd Rupperti (19.10.1914 – 5.2.2015) zum Fuldaer Stadtkommissar, im Februar 1946 zum Polizeikommandanten und 1952 zum Polizeidirektor ernannt. In dieser Funktion war er für den demokratischen Aufbau der kommunalen Polizei zuständig. Zwischen 1945 und 1948 verfasste er im Auftrag der US-Militärregierung wöchentlich einen „Stimmungsbericht“. Darin dokumentierte er die politische Entwicklung und die öffentliche Meinung der Fuldaer Bevölkerung. Als Polizeichef war Rupperti bis zu seinem Ruhestand für die Sicherheit und Ordnung der Stadt Fulda verantwortlich. 1980 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.
Georg Stieler – Erster Landrat mit politischer Erfahrung
Von 1945 bis zu seinem Ruhestand 1953 amtierte Georg Stieler (22.10.1886 – 15.5.1955) als erster Landrat Fuldas nach dem Krieg. Zunächst setzte ihn die Militärregierung ein, ein Jahr später wählte ihn der Kreistag einstimmig. Der CDU-Politiker war auch Mitglied der Verfassungberatenden Landesversammlung und des ersten Hessischen Landtages. Dort führte er zeitweise den Fraktionsvorsitz seiner Partei. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er vier Jahre als Soldat teilnahm, trat der katholische Gewerkschafter in die Zentrumspartei ein. Für sie saß er von 1919 bis 1932 im Preußischen Landtag. Von 1921 bis 1928 war er Polizeipräsident in Gelsenkirchen, anschließend Regierungspräsident in Aachen, bis ihn die Nationalsozialisten 1933 entlassen. Bis zum Ende des Krieges arbeitete er in der Industrie.
Verwendete Quellen und Literatur:
Sei der erste der kommentiert