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Wege der Vertriebenen in Fulda – Interview mit der Gästeführerin Martha Rathmann

| Geschichten | | Flucht und Vertreibung

"Es ist ein gutes Gefühl, den Menschen Erinnerungen gegeben zu haben", berichtet Martha Rathmann, die als Gästeführerin unterschiedliche Themenführungen in Fulda über die städtische Volkshochschule anbietet. 2021 hat sie anlässlich des 75. Jahrestages der Ankunft der Vertriebenen die Führung "Ungeliebt und fern der Heimat" entwickelt, bei der sie die Wege der Heimatvertriebenen nach ihrer Ankunft in Fulda sowie deren heutige Spuren im Stadtbild erkundet.

Das Thema der Heimatvertriebenen hat auch die Familie von Martha Rathmann selbst geprägt. So wird sie in diesem Interview nicht nur über die Führung berichten, sondern auch als Zeitzeugin ihre eigenen Erlebnisse schildern. Das Interview wurde am 25. November 2021 im Rahmen des Dokumentationsprojekts „Fulda erzählt“ in der Bibliothek des Vonderau Museums geführt.

Stadtführung

Seit Juni 2021 hat Martha Rathmann insgesamt 14 Führungen mit jeweils 12 bis 15 Teilnehmenden angeboten. Sie erzählt, dass viele Heimatvertriebene an der Führung teilgenommen haben, die noch einmal ihren Weg nachgehen wollten. Es seien aber auch sehr viele junge Menschen, sozusagen die Enkelgeneration, dabei gewesen, die sich für die Geschichte der Großeltern interessierten und der Frage nachgingen: „Wie ist es meinen Großeltern ergangen?“.

Der Treffpunkt für die Führung war der Bahnhofsvorplatz, wo Martha Rathmann den Teilnehmenden einen Einblick in die Gründe für die Vertreibung gibt. Dies sei ein guter Treffpunkt, um die historischen Ereignisse im Vorfeld zu schildern. Den weiteren roten Faden der Führung stellen die einzelnen Stationen dar, welche die Heimatvertriebenen nach der Ankunft am Fuldaer Bahnhof durchliefen.

Gleis 1

Die erste Station ist Gleis 1 am Bahnhof in Fulda, wo im Februar 1946 der erste Transport aus Landskron mit 1200 Menschen eintraf. Seit 2016 hängt dort eine Gedenktafel, auf welcher die Orte und Städte der ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reichs markiert sind. Für Martha Rathmann ist die Gedenktafel mit der Landkarte ein idealer Startpunkt, um einerseits die Herkunft der Heimatvertriebenen historisch einzuordnen und zu visualisieren. Andererseits ist die Karte auch eine gute Möglichkeit, mit den Teilnehmenden in das Gespräch zu kommen, indem sie beispielsweise ihre ehemaligen Heimatorte auf der Landkarte entdecken. Mit historischem Bildmaterial ergänzt Rathmann ihre Ausführungen. Auf Gleis 1 erfahren die Teilnehmenden etwa wie die Güterzüge aussahen, in denen die Vertriebenen transportiert wurden.

Suppen- und Teeküche der Caritas

Die zweite Station befindet sich direkt neben dem ZOB in der Ruprechtstraße am Standort des Einkaufzentrums Centhof. Dort war die Suppen- und Teeküche der Caritas in einer Holzbaracke untergebracht, in der die Flüchtlinge und Vertriebenen nach ihrer Ankunft mit heißen Getränken und Suppe versorgt wurden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellte die Linderung der Not von Vertriebenen und Flüchtlingen einen Tätigkeitsschwerpunkt der Caritas dar.

Aufnahmelager in der Rabanusstraße

Anschließend führt der Weg weiter in die Rabanusstraße 23. Dort befand sich ein Aufnahme- und Durchgangslager in der ehemaligen Fabrik Wahler.  Die Vertriebenen waren dort meistens für eine Nacht untergebracht. Martha Rathmann erzählt, dass ein Teilnehmer bei einer Führung berichtete, dass er als 16-Jähriger in der Fabrik untergebracht war. Diese sei mit Etagenbetten ausgestattet gewesen und die älteren Jungen hätten auf das Gepäck aufgepasst, damit nichts geklaut werden konnte.

Entlausung

Nach der Ankunft und Registrierung der Vertriebenen wurde eine gesundheitliche Überprüfung und Entlausung durchgeführt. Die eigens dafür eingerichtete städtische Desinfektionsanstalt, die vierte Station der Führung, befand sich in der Turnhalle der Stadtschule hinter dem heutigen Sparkassengebäude in der Rabanusstraße. Martha Rathmann erklärt, dass dort alle Heimatvertriebenen mehrere Runden durch das Gebäude laufen mussten und währenddessen mit Pulver besprüht wurden.

Verteilung

Am Busbahnhof in der Nähe des Stadtschlosses wurden die Heimatvertriebenen mit LKWs in die umliegenden Dörfer verteilt. Martha Rathmann schildert, dass beim Verladen neben den Koffern auch große „Ballen“ von einzelnen Personen transportiert wurden. Diese Ballen seien das Allerwichtigste und Wertvollste gewesen: Es waren die Federbetten, welche die Flüchtlinge und Vertriebenen aus ihrer Heimat mitgebracht hatten.

Flüchtlingsdienststelle

Die nächste Station der Führung ist der Ehrenhof des Stadtschlosses als Sitz der Stadtverwaltung. Denn in der Nachkriegszeit wurde dort eine Flüchtlingsdienststelle zur Versorgung der Vertriebenen eingerichtet. Rathmann berichtet hier über die Wohnungs-, Arbeits- und Lebensmittelbeschaffung. Sie halte es für bemerkenswert, wie schnell die Heimatvertriebenen dennoch Fuß gefasst und sich integriert hätten.

Gedenktafeln der Patenstädte

Die letzten zwei Stationen führen in die Nähe des Fuldaer Doms unterhalb der Michaelskirche. Vor den beiden Gedenktafeln erzählt Rathmann den Teilnehmenden, wie die Städtepartnerschaften von Fulda mit Oberglogau und Leitmeritz entstanden sind und auch, wie die politische Situation in der Nachkriegszeit aussah.

Inschrift (rechts):

„Der Toten der Stadt Oberglogau/Oberschlesien, der Gefallenen des Ersten und der Opfer des Zweiten Weltkrieges und der seit 1945 in der Vaterstadt bei der Vertreibung oder später an neuer Wohnstatt Verstorbenen gedenken in Verbundenheit und in Treue zur alten Heimat die zum siebten Male in der Patenstadt Fulda vereinten Oberglogauer. Pfingsten 1967. R.I.P.“

Inschrift (links):

„In treuer Verbundenheit zur angestammten Heimat im Elbtal und böhmischen Mittelgebirge gedenken wir aller Toten aus Stadt und Kreis Leitmeritz, der Gefallenen beider Weltkriege, aller Opfer von Krieg und Verbrechen, der Opfer der Vertreibung von 1945-1946, sowie aller fern der Heimat Verstorbenen. August 1997, 23. Bundestreffen in der Patenstadt Fulda. Heimatkreisverband Leitmeritz E.V.“

Erstaunlich sei, laut Rathmann, dass bereits kurz nach der Vertreibung die sogenannte „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950, eine Art Grundgesetz der Vertriebenen, entstanden sei.

Auszug aus der Charta der deutschen Heimatvertriebenen:

„1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. […] 2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem wir die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. 3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.“

Quelle: Bund der Heimatvertriebenen. URL: https://www.bund-der-vertriebenen.de/charta (Stand: 03.12.2021).

Städtisches Mahnmal für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft

Die Gedenkplatte aus Schiefer, die sich an der Michaelskirche befindet, stellt die letzte Station der Führung dar. Diese wurde zum Gedenken der Opfer von Krieg und Gewalt errichtet und 1963 eingeweiht. An dieser Station gibt Martha Rathmann einen Einblick in die Reaktion der Kirchen, etwa anhand des Hirtenwortes aus dem Jahr 1946. Im Fokus habe für sie dabei die Frage gestanden, wie das Bistum Fulda darauf reagiert hat, dass es plötzlich doppelt so viele Katholiken im Bistum gab. Das Foto zeigt das Mahnmal für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft aus dem Jahr 1962 an der Michaelskirche von Ewald Mataré. Die Inschrift lautet: „Unseren Toten – 1914/18 – 1933 – 1939/45 – Die Bürger Fuldas".

Entstehung der Führung und Fazit

Ihre eigene Biografie und ihr großes Interesse an historischen Ereignissen gab für Martha Rathmann den Anlass zur Erarbeitung der Führung. Aufgrund ihrer persönlichen Verbindung zum Thema habe sie angefangen, sich in die Literatur sowie in die Berichte von Heimatvertriebenen einzulesen. Für sie sei es sehr interessant gewesen, dass es diesen Menschen ähnlich erging und wie diese ihr Schicksal meisterten. Im ersten Lockdown der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 habe sie dann einen Plan zur weiteren Ausarbeitung entworfen, da sie das Thema nicht mehr losgelassen habe.

Die Führung habe für Martha Rathmann eine besondere Bedeutung, da sie auf diese Weise ihre eigene Geschichte aufarbeiten und ein Kapitel abschließen konnte. Zudem sei der Austausch mit anderen Heimatvertriebenen während den Führungen eine große Bereicherung: „Ich finde es gut, wenn persönliche Geschichten hinzukommen […]. Das macht es lebendig, so eine Führung.“ Abschließend berichtet sie, dass es ein gutes Gefühl gewesen sei, den Menschen Erinnerungen gegeben zu haben. Wichtig sei es, nicht zu vergessen.

Verwendete Quellen und Literatur:

  • Fuldaer Zeitung:
    • „Eine Tafel gegen das Vergessen“, 10.12.2016.
    • „Eine neue Heimat in der Barockstadt“, 29.09.2016
  • Heidenreich, Bernd / Sönke Neitzel (Hg.): Neubürger in Hessen. Ankunft und Integration der Heimatvertriebenen, Wiesbaden 2006.
  • Kuhn, Ekkehard: Flucht, Vertreibung, Integration. Über das Schicksal der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Norderstedt, 2016.
  • Magistrat der Stadt Fulda / Kreisausschuss des Landkreises Fulda (Hg.): Fulda nach dem 2. Weltkrieg, Fulda 2008.
  • Stiftung „Vertriebene in Hessen“ (Hg.): Hessen und die Vertriebenen. Eine Bilanz von 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2010.
  • Summa, Rudolf: Gefallenendenkmäler in Fulda, in: Staub, Alessandra Sorbello / Jäger, Berthold / Heiler, Thomas / Imhof, Michael (Hrsg.): Fulda in den Künsten. Festgabe für Gregor K. Stasch zum 65. Geburtstag, Fulda 2015, S. 217-234.

Zur Person:

Martha Rathmann wurde 1941 in der Nähe von Marienbad im Sudetenland geboren. 1945 erlebte sie im Alter von vier Jahren die Aussiedlung. Der Vater war im Zweiten Weltkrieg gefallen. Nach der Aussiedlung kam sie zunächst nach Oberbayern. Anschließend zog die Familie nach Franken zu einem Bruder der Mutter. In Würzburg besuchte Rathmann von 1955 bis 1958 die Maria-Ward-Schule, wo sie im Internat von den Englischen Fräulein unterrichtet wurde. Sie absolvierte eine Ausbildung als Industriekauffrau, arbeitete als Sekretärin bei zwei Verlagen in Würzburg und als Auslandskorrespondentin für einen Automobilhersteller. Von 1965 bis 1967 war sie in Äthiopien in der Entwicklungshilfe tätig. Nach ihrer Heirat zog sie 1977 nach Fulda. Ihr Geschichtsinteresse begleitete sie ihr ganzes Leben lang. Als Gästeführerin bietet sie heute unterschiedliche Themenführungen in Fulda an.

Wer an einer Führung mit Martha Rathmann interessiert ist, kann gerne den Kontakt aufnehmen per Email an martha.rathmann(at)web.de oder telefonisch unter 0661/402896.

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